Freilernen in England
Ein Erfahrungsbericht
Für Familien, die ihren Kindern selbstbestimmtes Lernen ermöglichen wollen, ist Freilernen in England eine ernsthafte und häufig erwogene Option. Doch leichtfertig trifft wohl niemand so eine weitreichende Entscheidung. Fundierte Informationen und möglichst vielseitige Eindrücke erleichtern die Entscheidungsfindung.
Freilernen in England – eine legale Bildungsmöglichkeit
Die Home Education-Szene ist in England durch die andere Gesetzeslage viel heterogener und bunter als in Deutschland. In Großbritannien liegt die Bildung des Kindes in der Verantwortung der Eltern und kann im klassischen Schulsystem oder auch „otherwise“ (auf andere Weise) realisiert werden. Entsprechend selbstverständlich nehmen die Engländer die Möglichkeit der Home Education in Anspruch.
Neben der Wahl, die Kinder komplett zu Hause lernen zu lassen, gibt es die Möglichkeit des so genannten Flexischoolings. In diesem Fall besucht ein Kind für eine bestimmte Zeit oder ausgewählte Fächer in der Woche eine reguläre Schule. Die Schulleitung ist jedoch nicht verpflichtet, dem zuzustimmen, und so geschieht Flexischooling immer in Absprache mit einer Schule der Wahl.
Kontrollen, Prüfungen oder vorgeschriebene Curricula für Home Educators gibt es nicht. Auch eine Meldepflicht existiert nicht. Behördenkontakte kommen vereinzelt vor, und zwar in der Regel dann, wenn man ein Kind aus der Schule abmeldet. Hat man es gar nicht erst angemeldet, bleibt man zumeist unbehelligt.
Während man in Deutschland schon eine gehörige Portion Idealismus, Entschlossenheit und Mut aufbringen muss, um sich als Freilerner zu bekennen und sich den alltäglichen Hindernissen zu stellen, betrachten es viele Engländer als ihr natürliches Recht, Kinder auch zu Hause lernen lassen zu dürfen. In den Home Education-Gruppen findet sich daher ein echter Querschnitt der Bevölkerung. Die Lebensstile und Ansichten sind so unterschiedlich wie die persönlichen Geschichten und Motivationen, Home Education zu betreiben. Erzählen wir hingegen von der Situation in Deutschland, sind die Menschen häufig erstaunt bis empört, dass der Staat in Deutschland sich so vehement einmischt.
Home Education auf die englische Art
Dennoch spürt man hier auch unter Home Educators noch den Einfluss der strengen englischen Schulen. In Deutschland wird nach meiner Wahrnehmung die Freilern-Szene überwiegend vom Unschooling dominiert. Der Lebensstil ist häufig linksalternativ, und Freilerner-Treffen sind oftmals eher informell organisiert.
Die Angebote in England für Freilerner sind – jedenfalls in unserer Region – viel strukturierter und schulähnlicher, als ich es vor dem Hintergrund unser deutschen Erfahrungen erwartet hätte. Es gibt zahlreiche Kurse und Angebote, die von Kochkursen über Theater, Exkursionen, Wissenschafts- und Malkurse reichen. Für ältere Kinder besteht die Möglichkeit, so genannte GCSE (General Certificate of Secondary Education) abzulegen. Hierbei handelt es sich um Abschlussprüfungen in einzelnen Fächern, die einen zum Besuch eines Colleges oder einer Universität befähigen. Je nach Studienfach sind unterschiedliche Kombinationen mehrerer GCSE erforderlich. Schüler absolvieren in der Regel Prüfungen in acht bis fünfzehn Fächern.
Im Laufe der Zeit habe ich mehrfach gehört, dass Home Educators in Großbritannien offenbar sehr gerne an Universitäten und Colleges genommen werden, da man davon ausgeht, dass diese sehr eigenständig und motiviert lernen.
Der überwiegende Teil meiner Bekannten betreibt ein Minimum an Unterricht und orientiert sich zumindest grob am schulischen Curriculum. Die Autonomous Learners (Unschooler) sind in der Minderheit. Wir selbst unterrichten gar nicht. Das Lernen geschieht im Tun und im Gespräch.
Persönliche Erfahrungen
Wir selbst sind im Mai 2013, einige Monate vor Schuleintritt meines älteren Sohnes, mit Sack und Pack nach Südengland gezogen. Drei Hauptgründe waren bei dieser Entscheidung ausschlaggebend.
- Erstens wollten wir so frei wie möglich, d.h. ohne staatliche Kontrollen oder Prüfungen, leben.
- Zweitens beherrschen sowohl mein Mann als auch ich fließend die Landessprache und
- drittens erhielt mein Mann auf Nachfrage die Möglichkeit, über seine deutsche Firma einen Arbeitsplatz in Großbritannien zu bekommen.
Für mich spielte ebenfalls eine Rolle, dass Großbritannien – noch – zur EU gehört und wir als EU-Bürger automatisch Arbeits- und Wohnrecht genießen. Eine Auswanderung nach Kanada, die wir damals ebenfalls erwogen, schied für mich wegen des aufwändigen und langwierigen Bewerberverfahrens, aber auch aufgrund der hohen Kosten, aus.
Standort
Doch zuerst galt es natürlich, eine grundsätzliche Entscheidung zu treffen. Konnten wir uns überhaupt vorstellen, in England zu leben? Fühlten wir uns dort wohl? Würden wir einen Ort finden, in dem wir Wurzeln schlagen konnten? Und vor allem: gefiel uns England? Ich kannte Großbritannien vorher überhaupt nicht, sieht man von einem fünftägigen London-Aufenthalt einmal ab.
Um ein Gefühl für Land und Leute zu bekommen, bereisten wir 2012 drei Wochen lang die Insel, von Nord bis Süd. Bereits zu diesem Zeitpunkt nahm ich Kontakte mit britischen Home Educators auf, und wir trafen einige Familien, um Einblicke in die hiesige „Szene“ zu bekommen. Dabei erfuhr ich auch, dass die einzelnen Grafschaften (Counties) als unterschiedlich Home Education-freundlich gelten.
Bedingt durch den Job meines Mannes waren wir relativ flexibel in der Standortwahl. London war für uns ein wichtiger Bezugspunkt, da dort – ähnlich wie in Paris – sehr zentralisiert der Löwenanteil des Business geschieht. Aber auch eine andere größere Stadt wie Edinburgh oder Bristol wäre in Frage gekommen, vorausgesetzt es gab dort genügend Firmen.
Fündig wurden wir schließlich in Hampshire im Süden Englands, etwa eine Zugstunde westlich von London entfernt. Mir gefiel das Wetter, und auch die Wege nach Deutschland waren nicht weiter als nötig. Dieses County genoss zudem einen guten Ruf, was den Umgang mit Home Educators betraf; ein Faktor, der mir wichtig war, weil ich damals noch nicht beurteilen konnte, ob wir in Kontakt mit Behörden kommen würden (was bislang nicht geschah).
Der Nachteil: Die Hauspreise sind im Süden saftig. Dabei gilt: je näher an London, desto teurer. Und der „Speckgürtel“ von London reicht weit. Bis zu zwei Stunden Pendeln sind keine Seltenheit. In unserer Nähe werden gerade riesige Neubauviertel gebaut. Viele Zugezogene kommen aus der Nähe Londons und weichen immer weiter gen Westen aus. Sogar Bristol hegt offensichtlich Pläne, eine Schnellverbindung bis London zu bauen.
Wir konnten uns diesen Standort durch den gut bezahlten Job meines Mannes erfreulicherweise leisten. Unsere Hoffnung, dass sich vielleicht auch andere deutsche Freilerner in unserer Nähe ansiedeln würden, erwies sich jedoch als trügerisch. Eine Reihe von Bekannten und Freunden zog weiter, um sich weiter westlich oder nördlich in günstigeren – und beschaulicheren – Regionen niederzulassen.
Haussuche und Umzug
Da die englischen Häuser deutlich kleiner und leichter gebaut sind als in Deutschland und auch die Gärten oftmals eher an Kaninchenställe erinnern, verbrachten wir im Folgenden rund ein Jahr damit, unseren Hausstand zu reduzieren und den Umzug vorzubereiten. Es galt zahlreiche Fragen zu klären wie die Fortführung deutscher Verträge, Krankheitsschutz, Hausrat- und Haftpflichtversicherung, Alterssicherung und einiges mehr. Darüber hinaus stießen wir Möbel ab, die für englische Deckenhöhen entweder zu hoch waren oder in den Wänden unseres neuen Zuhauses hätten verschraubt werden müssen.
Unser aktueller Vermieter ist sehr entspannt, wenn es darum geht, im Haus in die Wände zu dübeln. Unser erstes Haus, ein Reihenendhaus, wurde jedoch von einer Agentur betreut, und wir mussten für jeden einzelnen Dübel eine schriftliche Erlaubnis einholen. (Angesichts der Tatsache, dass die englischen Häuser innen im Wesentlichen aus Rigips bestehen, eine durchaus verständliche Maßnahme).
Gewöhnungsbedürftig war auch, dass wir etwa alle sechs Monate mit einem Hausbesuch kontrolliert wurden – von der Vermietungsagentur, wohlgemerkt. Zu schlecht ist wohl der Ruf englischer Mieter (die meisten Engländer kaufen, wenn sie können), und zu schlecht die Erfahrungen. Seit unserem Umzug in ein größeres, freistehendes Haus bleibt uns dieser Eingriff in die Privatsphäre glücklicherweise erspart.
Keller gibt es hier in der Regel auch nicht, so dass wir ziemlich viel verschenkten und verkauften. Den Umzug konnten wir über die Firma meines Mannes abwickeln, so dass wir mit Zolleinfuhr, Transport etc. nur bedingt etwas zu tun hatten. Dennoch mussten wir für den Zoll eine Liste mit dem groben Inhalt aller Umzugskartons aufstellen („Bücher“; „Küchenutensilien“ etc.); darauf wies uns die Spedition hin.
Die Häusersuche führten wir online durch. Streetview erwies sich als sehr hilfreich, wenn es darum ging, die Lage eines Objektes zu beurteilen. Etwa sechs Wochen vor dem anvisierten Umzug vereinbarten wir mit Maklern Besichtigungstermine (früher erscheinen die Objekte in der Regel nicht auf dem Markt), besichtigten innerhalb von vier Tagen mehrere Häuser und entschieden uns für eins.
Die Überprüfung seitens der Agentur, ob wir als Mieter geeignet und solvent sind, verlief ebenfalls reibungslos, so dass wir einige Wochen später wie geplant umziehen konnten. Dass wir uns bereits von Deutschland aus über die Offshore-Bank Lloyds TSB um ein englisches Konto bemüht hatten, erwies sich nun als äußerst wichtig.
Kulturschock
Im neuen Land anzukommen war zuerst eine große Befreiung. Ich hatte das Gefühl, wieder atmen zu können und einen Platz gefunden zu haben, wo wir sein können. Dennoch war der Umzug ein kultureller Schock. Während die Kinder sich durch die noch bruchstückhaften Sprachkenntnisse überraschend scheu zeigten, kämpften wir Erwachsenen mehr mit den Botschaften „zwischen den Zeilen“.
Die Engländer sind ja bekannt für ihre Höflichkeit, und uns wurde mehrfach berichtet, dass die Direktheit der Deutschen oft als rüde empfunden wird. Viel entscheidender war aber die Erfahrung, dass man erst die ungeschriebenen Gesetze kennen und verstehen lernen muss. Bei einem Deutschen kann ich in der Regel recht gut abschätzen, wie eine Reaktion zu verstehen ist. Was aber bedeutet es, wenn ein Engländer eine Einladung ausspricht? Ist er nur höflich, oder meint er es auch so?
So gesehen haben wir die Erfahrung gemacht, die wohl jeder macht, der seinen Wohnsitz in ein Land verlegt, in dem er nicht aufgewachsen ist. Die Unterschiede sind oft nicht groß, aber entscheidend. Mit den damit verbundenen Unsicherheiten muss man erst einmal umgehen lernen. So habe ich es mir zur Angewohnheit gemacht, bei Bedarf eine englische Bekannte beiseite zu nehmen und sie zu fragen, was in einer bestimmten Situation als angemessen und üblich gilt.
Brexit
Einige Worte muss ich leider auch dem Brexit widmen. Er hat mich – obwohl ich ihn kommen sah – zutiefst erschüttert. Es ist eine Sache, ins Ausland zu gehen und sich ein neues Leben aufzubauen. Aber es ist eine ganz andere, wenn man sich plötzlich nicht mehr sicher ist, ob man in dieser neuen Heimat überhaupt noch erwünscht ist.
Das Referendum über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU im Sommer 2016 hat – zumindest kurzfristig – eine recht heftige Welle der Fremdenfeindlichkeit in England ausgelöst. So wurde eine Bekannte im Lidl, einem immerhin deutschen Supermarkt, von einem anderen Kunden an der Kasse gefragt, wann sie denn nun endlich nach Hause gehen würde. Glaubt man den Medien, wurden zudem vorzugsweise Polen Zielscheibe verbaler und physischer Angriffe. Angst und Fremdenfeindlichkeit sind nicht nur in Deutschland ein wachsendes Problem.
Neben den Themen Flucht, Heimatverlust und Fremdenfeindlichkeit hat der Brexit aber vor allem auch mein neu gewonnenes Sicherheitsgefühl erschüttert. Fakt ist, dass nach wie vor weitgehend unklar ist, wann, wie und zu welchen Bedingungen der EU-Austritt erfolgen soll.
Da wir bereits seit über drei Jahren im Lande sind, nach jetziger Rechtslage in zwei Jahren einen Anspruch auf dauerhaften Wohnsitz erworben haben werden und finanziell vollständig für uns sorgen können, haben wir wahrscheinlich recht gute Chancen, bleiben zu können. Anders sieht die Situation für Familien aus, die beispielsweise staatliche Zuschüsse erhalten, weil die Familieneinkünfte nicht ausreichen, um die Lebenshaltungskosten zu bestreiten. Auch wie sich Neuzuwanderung gestalten wird, ist offen. Klar scheint zu sein, dass ein Großteil der Brexit-Wähler vor allem das Thema Zuwanderung stoppen wollte. Ob und inwieweit es zukünftig „Zuwanderer erster oder zweiter Klasse“ geben wird, ist ebenfalls unklar.
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Viel Spaß beim Auswandern!