Dass ich mich seit langem mit Scham beschäftige, ist für viele kein Geheimnis mehr. Doch welche Rolle spielen Scham und Stolz im Leben eines Freilerners? Und wie beeinflusst Scham unser Verhalten?

Was ist Scham? Ein kurzer Abriss

Scham ist ein soziales Gefühl. Es entsteht in Begegnung mit anderen Menschen und regelt als Kontaktgefühl unsere Offenheit bzw. unseren Wunsch, sich vor anderen zu verbergen.

Scham hat stets etwas mit sozialer Bewertung, oder – um es schärfer auszudrücken – mit Verurteilung zu tun. Der Blick anderer spielt bei der Entwicklung von Scham eine zentrale Rolle, und das bereits in frühester Kindheit.

Die Fähigkeit, sich zu schämen, ermöglicht uns, uns an unser soziales Umfeld anzupassen. Als solches ist Scham ein sinnvolles und gesundes Gefühl.

Jedoch leben wir heutzutage in einer, wie der Sozialwissenschaftler Stephan Marks es ausdrückt, „Atmosphäre der Scham“. Das bedeutet, dass wir vielfach und über viele Generationen traumatisch beschämt, erniedrigt, gedemütigt, nicht gesehen, nicht Wert geschätzt oder geliebt wurden. Die strukturelle Gewalt, auf der die öffentliche Erziehung fußt, trug und trägt zu diesen Verletzungen häufig bei. Die psychologischen Folgen sind für uns alle – auch wenn dies im allgemeinen Bewusstsein oftmals noch nicht sehr präsent ist – fatal.

Diese Traumatisierungen, ausgelöst durch übermäßige Scham, sind uns in der Regel nicht bewusst. Scham unterliegt einem mächtigen Tabu, und wir tun normalerweise alles dafür, um sie nicht zu spüren. Über sie zu sprechen bzw. sie auszudrücken, ist gleichermaßen schwierig. Angesichts von Scham verschlägt es uns regelrecht die Sprache.

Doch das ist noch nicht der schwierigste Aspekt von Scham. Viel entscheidender ist, dass wir regelrecht wünschen, vom Erdboden verschluckt zu werden. Wir wünschen uns nichts sehnlicher, als unsichtbar (!) zu werden. Das ist naheliegend, kann uns doch in diesem Moment der kritische Blick eines anderen nicht länger treffen.

Wenn wir uns schämen, unterbricht unser Körper blitzartig jeglichen Kontakt zur Außenwelt. Wir isolieren uns. Physiologisch laufen dabei die gleichen Prozesse ab wie in einer existenziell bedrohlichen, d.h. potenziell traumatisierenden Situation. Wir frieren regelrecht ein und werden handlungsunfähig. Uns stehen nur noch drei uralte Handlungsmuster zur Verfügung: Kämpfen, Flüchten oder Totstellen. Daher ist es auch ein so verbreitetes Machtmittel, andere zu beschämen: es setzt den Beschämten schlagartig außer Gefecht.

Scham in Randgruppen

Seien wir ehrlich: als Freilerner gehören wir einer Randgruppe an. Die durchschnittliche Akzeptanz in der Bevölkerung ist zwar erfreulicherweise in den letzten Jahren dank dauerhafter Öffentlichkeitsarbeit gestiegen. Doch jeder, der sich ernsthaft mit dem „Ausstieg“ aus dem bzw. Alternativen zum Schulsystem beschäftigt und dies auch in seinem Umfeld artikuliert, kennt die vielfältigen ablehnenden, kritischen und oftmals erstaunlich heftig-aggressiven Reaktionen.

Diese heftigen Reaktionen liegen oft in Glaubenssätzen begründet: „Das macht man so!“ „Das geht doch nicht!“ „Das darfst du aber nicht!“ „Das haben wir schon immer so gemacht!“ usw.

Oft merken wir jedoch gar nicht, dass es Glaubenssätze sind, die uns leiten. Vielmehr sind wir geneigt, unsere subjektive Sicht auf die Welt als „Wahrheit“ zu betrachten. Enthüllt werden diese Glaubenssätze dann sehr schmerzhaft, wenn jemand wagt, die Dinge auf einmal ganz anders zu machen. Auch Vegetarier oder Veganer können ein Lied davon singen.

Da Scham entscheidend mit sozialer Akzeptanz und Gruppenzugehörigkeit verbunden ist bzw. evolutionär den Zusammenhalt einer Gruppe sicher zu stellen hatte, ist Abweichung physiologisch mit einer tiefen Urangst verknüpft. Auch das macht biologisch durchaus Sinn, denn ohne den Schutz seiner Sippe war (und ist noch heute) ein Mensch allein nicht lebensfähig. Heute werden wir zwar nicht mehr allein in der Wildnis zurückgelassen. Aber für einen „sozialen Tod“ kann es immer noch reichen.

Doch was bedeutet dies für Randgruppen? Einer Randgruppe anzugehören, bedeutet immer, sich in einem oder mehreren Merkmalen wesentlich vom Großteil der Bevölkerung zu unterscheiden. Das kann eine andere Hautfarbe sein, ein anderes Werteverständnis oder eine andere Lebensweise. Diese Abweichung ist in sich schamfördernd.

Randgruppen fordern Großgruppen stets heraus. Sie bedrohen (jedenfalls potenziell) ihre Homogenität und ihren Zusammenhalt. Randgruppen werden als „gefährlich“ wahrgenommen.

Von der Schwierigkeit, „anders“ zu sein

Die reine Tatsache, dass Mitglieder einer Randgruppe irgendwie anders sind, ist an sich jedoch noch kein Problem. Man könnte sie einfach anders sein lassen, und alle wären glücklich. Das Problem entsteht dort, wo die Bewertung und die damit zumeist einhergehende Ausgrenzung einsetzt. Wir erinnern uns: eine Gruppe versucht immer unbewusst, ihre Stabilität sicher zu stellen. Daher ist es nur folgerichtig, dass Einzelne, die scheinbar die Gruppe gefährden, entfernt bzw. ausgegrenzt werden („müssen“). Doch für den Ausgegrenzten ist dies nicht nur eine extrem schmerzhafte, sondern auch eine sehr bedrohliche Erfahrung.

Ein Problem bestünde ebenfalls nicht, wenn es für uns unwichtig wäre, wie unsere Mitmenschen uns (an)sehen oder beurteilen. Doch das ist wohl nur in Ausnahmefällen der Fall. Fakt ist vielmehr: als soziale Wesen sind wir auf Anerkennung, Teilhabe, Wertschätzung, Liebe und Zuwendung angewiesen. Wir brauchen positiven Kontakt, so wie wir Nahrung, Licht und Wärme brauchen. Was geschieht, wenn Kinder in ihrer Entwicklung nicht genügend Zuwendung erhalten, wurde in der Psychologie hinreichend erforscht.

Entdeckt man also eines Tages als „Freilerner-Neuling“, dass man sich zu einer nicht nur seltenen, sondern auch als äußerst kritisch beäugten Lebensweise hingezogen fühlt, beginnen die inneren und äußeren Konflikte. Zumal man am Anfang ja selbst noch unsicher ist. Was habe ich da bloß entdeckt? Warum berührt mich dieses Thema so tief? Und wie, um Himmels willen, soll ich etwas tun und rechtfertigen, was in meinem Umfeld als verboten gilt?

Spätestens in diesem Moment prallen inneres Gewissen (unser innerer Blick auf uns selbst und unsere Welt) und unser äußeres Gewissen (Erziehung, (Rollen-)Erwartungen, sozialer Druck, Ansehen) ungebremst aufeinander.

Und dann machen wir eine sehr schmerzliche Erfahrung. Nicht einmal, sondern hundertfach: Etwas, von dem wir zutiefst überzeugt sind, etwas, das sich für uns wahr und richtig anfühlt, wird von anderen gnadenlos zerpflückt.

Das könnte man ja durchaus als positiv betrachten. Denn letztlich spiegeln uns die anderen meist nur unsere eigenen (erlernten) inneren Kritiker. Darf ich das wirklich tun? Wie kann ich es wagen, es anders zu machen? Wieso sollte ich es besser wissen oder machen als alle anderen? Bin ich nicht verantwortungslos? Was, wenn es schief geht? Was, wenn ich einer Illusion aufsitze? Was, wenn ich das Leben meiner Kinder verpfusche? Was, wenn wir scheitern?

Und vielleicht schämen wir uns dann für unser Anders-, unser Sosein. Weil in uns, wie in allen anderen, die klammheimliche Überzeugung schlummert, dass wir eigentlich nicht aus der Reihe tanzen sollten.

Scham oder Stolz?

Doch nicht alle Freilerner erleben in gleichem Maß und in der gleichen Intensität Schamgefühle. Die persönliche Vorgeschichte wirkt sich unterschiedlich aus. Ich sehe eine ganze Reihe vor allem junger Freilerner, die sehr stolz und selbstbewusst wirken und diese Positivität auch in die Welt tragen. Zum einen spielt persönliche Resilienz (Widerstandskraft) und Ich-Stärke eine entscheidende Rolle, aber auch die Unterstützung, die sie in ihrem Umfeld erfahren bzw. von Kindesbeinen erfahren haben. Denn es gibt ein Wundermittel gegen Scham: und das heißt Verbundenheit.

In unserem Fall überwogen klar die negativen und angstvollen Reaktionen. Als wir den Kindergarten hinter uns ließen, wollten die anderen Eltern auf einmal nichts mehr mit uns zu tun haben. Es war ein Stück Arbeit, meinem Sohn zu erklären, dass nicht seine Freunde ihn verlassen hatten, sondern dass deren Eltern sich von uns zurückzogen.

Auch innerhalb der Familie machten wir teilweise sehr unerfreuliche Erfahrungen, die so weit reichten, dass der Versuch eines Austauschs nach wiederholten Anläufen beider Seiten schließlich im Kontaktabbruch mündete. Heute würde ich sagen, wir sind an einer unerkannten – und unerlösten – Schamdynamik gescheitert.

Schamauslösend für mich persönlich war auch das Gefühl, in Deutschland keinen Platz (Raum) zu finden. Ich hatte das Gefühl, wir dürfen nicht einfach sein. Das, was wir tun wollten, was uns entsprach, war verboten, und die möglichen gesellschaftlichen Sanktionen bedrohten die Sicherheit unserer Familie existenziell. Doch wie wirkt es sich auf eine Familie aus, wenn die Umwelt sie auf einmal kriminalisiert?

Dies bewog uns im Gegensatz zu vielen anderen, die in Deutschland bleiben, das Land zu verlassen und nach England zu gehen. Nur um dort die Erfahrung zu machen, dass wir auch hier einer Randgruppe angehören. Während wir mit anderen deutschen Freilernern die mehr oder weniger gleichen Erfahrungen teilten, ist es für Engländer, die mit einer viel größeren Selbstverständlichkeit Home Education machen, viel schwerer nachzuvollziehen, warum wir uns mit manchen Dingen so schwer tun.

Netzwerke

Mit Scham und Beschämung umzugehen, ist nie einfach. Genauer gesagt, ist Scham eines der schmerzhaftesten Gefühle, das wir überhaupt kennen. Und hierfür ist es noch nicht einmal erforderlich, negativ beurteilt oder herabgewürdigt zu werden. Bereits das Gefühl, in der eigenen Wahrnehmung nicht verstanden (und anerkannt) bzw. nicht gesehen zu werden, löst Scham aus. Es ist, als würde unser Körper uns sagen: Das nächste Mal behältst du das besser für dich. Es ist sicherer.

Was also tun? Die meisten Freilerner gehen instinktiv den richtigen Schritt: sie verbinden und solidarisieren sich. Sie informieren sich. Sie holen sich die Bestätigung und das Verständnis, das sie vielleicht in ihrem direkten Umfeld nicht finden konnten. Sie bilden eigene Gruppen.

Und darüber hinaus empfinde ich es selbst immer wieder als extrem wichtig, in größeren Zusammenhängen zu denken. Oder anders gesagt: den Dingen einen Sinn zu geben.

Freilernen – der Blick nach vorne

Sinn und Bedeutung ist ebenfalls ein mächtiges Mittel gegen Scham. Es kann ein Gefühl von Stolz in uns etablieren. Und es kann uns tief mit uns selbst verbinden und uns erden. Warum tun wir, was wir tun? Welche Wünsche, Träume und Hoffnungen treiben uns an?

Sich für den Weg des Freilernens zu entscheiden, erfordert viel und verdient meines Erachtens höchsten Respekt. Bei allen Fehlern und Irrtümern, die wir alle machen.

Frei zu lernen erfordert Mut, Zutrauen, Vertrauen, Ich-Stärke, Entschlossenheit, Durchhaltevermögen, Opferbereitschaft, Kritikfähigkeit, Lernbereitschaft, Kontaktfähigkeit und die Bereitschaft, sich immer wieder selbst zu hinterfragen und neu einzulassen.

Den Dingen (neuen) Wert zuschreiben

Wenn Ihr also wieder einmal an Euch zweifelt oder Euch der Kommentar Eurer Eltern/Nachbarn/Kollegen getroffen hat:
Stellt Euch vor den Spiegel, klopft Euch auf die Schulter und macht Euch klar, was Ihr leistet.

Ihr bahnt neue Wege. Ihr geht voran, ohne genau den Weg zu kennen. Ihr riskiert es, Fehler zu machen. Und Ihr handelt aus Liebe.

Ihr seid wunderbar. Bunt, lebensfroh, erneuernd, kreativ. Ihr findet Lösungen, anstatt in Problemen verhaftet zu bleiben. Ihr zeigt Euch, Ihr tretet für Eure Kinder und für Eure Überzeugungen ein.

Seid stolz auf das, was Ihr tut. Seid stolz aufeinander.
Und wenn Euch der Gegenwind mal wieder eiskalt ins Gesicht weht: seid vor allem stolz auf Euch selbst. Ihr steht noch. Oder wenn Ihr umgefallen seid, steht Ihr wieder auf.

Denn Ihr habt eine Vision. Und diese Vision reicht weiter als bis zum sprichwörtlichen Tellerrand. Diese Vision ist das Fundament unserer Zukunft.

Bleibt verrückt

Bleibt verrückt, unangepasst, stolz und mutig. Geht Euren ureigenen Weg, unbeirrbar. In einer weltweiten Atmosphäre der Scham und Getrenntheit ist es das Beste, was wir zur Heilung dieses Planeten beitragen können.

Ich bin froh, dass es Euch gibt. Und dass wir auf diesem herausfordernden Weg nicht alleine sind.

Buchtipps

Zur Einführung

Stephan Marks: Scham – die tabuisierte Emotion
Für mich das entscheidende Buch zum Thema Scham. Stephan Marks ist Sozialwissenschaftler und bietet auch Fortbildungen zum Thema an, u.a. für Lehrer.

Udo Baer und Gabriele Frick-Baer: Vom Schämen und Beschämtwerden
Schmales Büchlein, das einen guten Einstieg bietet

Victor Chu: Scham und Leidenschaft
Buch eines Gestalttherapeuten, der mit Familienaufstellungen arbeitet

Zur historischen Dimension von Scham

Stephan Marks: Warum folgten sie Hitler? – Die Psychologie des Nationalsozialismus

Für therapeutisch Interessierte

Micha Hilgers: Scham: Gesichter eines Affekts
Gut zu lesender Klassiker eines erfahrenen Psychoanalytikers

Uri Weinblatt: Die Nähe ist ganz nah! Scham und Verletzungen in Beziehungen überwinden
Hervorragendes Buch, um die Dynamik der Scham (vor allem in Gesprächen) besser zu verstehen. Besonders aufschlussreich für therapeutisch Interessierte.

Leon Wurmser: Die Maske der Scham: Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten
Eines der am häufigsten zitierten und umfangreichsten Bücher. Allerdings recht mühsam zu lesen; ich habe es auf halber Strecke beiseite gelegt.