Niemand hat nur ein Gesicht – nein, eine ganze Schar an Persönlichkeitsanteilen schlummert in uns allen. In der Psychologie nennt man dies auch das innere Team. Entwickelt hat dieses Persönlichkeitsmodell der Psychologe Friedemann Schulz von Thun. Doch warum ist es sinnvoll und hilfreich, dein inneres Team kennenzulernen?
Jeder kennt das: manchmal sind wir regelrecht mit uns selbst im Clinch. Dabei können wir uns unser Innenleben als regelrechte Bühne vorstellen, die von einer lebhaften Gruppe verschiedener Figuren bevölkert wird. Gemeint sind mit dem inneren Team keine pathologischen Persönlichkeitsspaltungen, sondern eine natürliche Vielfalt innerer Facetten.
Wenn wir uns die Mühe machen, mit diesen verschiedenen inneren „Teammitgliedern“ einmal Kontakt aufzunehmen, so entdecken wir vielleicht die Mutter, den Vater, das innere Kind, den Zweifler, den Besserwisser, den Angsthasen, den Draufgänger, den Lehrer, die weise alte Frau oder den Magier in uns.
Inneres Team im Dialog
Doch worin liegt der praktische Wert eines solchen Persönlichkeitsverständnisses? Was habe ich davon, mich nicht nur als eine, sondern als viele verschiedene Personen auf einmal zu begreifen? Das Geheimnis liegt auch hier – wie so oft im Leben – in gelungener Kommunikation. Begreifen (und spüren) wir, dass wir „mehr als einer“ sind, können wir mit diesen verschiedenen Persönlichkeitsaspekten auch besser in Kontakt gelangen.
Die Gestalttherapie kennt hierzu eine faszinierende Methode: die Stuhlarbeit. In der Stuhlarbeit kann man entweder verschiedene reale Personen imaginativ auf verschiedene Stühle setzen und miteinander ins Gespräch bringen, oder eben unsere inneren Anteile.
Meldet sich also immer wieder dein nörgelnder Kritiker zu Wort: setz ihn doch einmal gedanklich auf einen Stuhl dir gegenüber – oder vielleicht auch an deiner Seite. Frag ihn, was er zu sagen hat, und gib ihm selbst auch Antwort. Alternativ kannst du dich auch einmal auf seinen Platz setzen bzw. ihn von deinem Platz aus sprechen lassen. Wie fühlt es sich an, der ewige Kritiker oder der ewige Spielverderber zu sein? Oder der Einpeitscher? Oder der Oberlehrer? Wie sieht die Welt aus seiner Warte aus? Welche Vorteile hat eine bestimmte Rolle, und was fühlt sich weniger komfortabel an?
In verschiedene Rollen schlüpfen
Besonders nützlich kann sich eine solche Inszenierung und Unterscheidung innerer Rollen erweisen, wenn wir wiederkehrend mit uns selbst im Konflikt stehen. So beharrt z.B. unser Verstand hartnäckig darauf, dass wir einen bestimmten Weg einschlagen sollten, während unser Herz etwas ganz anderes sagt.
Was aber geschieht nun, wenn du die verschiedenen Mitglieder deines Teams einmal klar benennst und ihnen einen Namen, eine Gestalt oder ein Gesicht gibst? Was, wenn du sie gedanklich einmal frei sprechen lässt (oder ihnen anderweitigen kreativen Ausdruck verleihst), mit ihnen ein Gespräch beginnst oder einem Schlagabtausch zwischen verschiedenen Mitgliedern deines inneren Teams zuhörst? Was haben diese verschiedenen Anteile in dir zu sagen, und welche Funktion erfüllen sie für dich?
Wenn du dieses Experiment einmal wagst, wirst du merken: es geschieht das gleiche, was du mit einem guten Freund, in einer Sportmannschaft oder unter Kollegen erleben würdest: durch Gespräche – und seien sie auch „nur“ fiktiv – entsteht Verständnis und mehr Nähe zwischen den Beteiligten, und im günstigsten Fall findet Ihr Lösungen, die für alle vorteilhaft und akzeptabel sind.
Klingt zu abstrakt? Probier es aus!
Sieh es mal so: Deine inneren Teammitglieder verhalten sich (fast) wie reale Personen: sie wollen gesehen, Wert geschätzt, geliebt und gehört werden. Sie handeln nach bestem Wissen und Gewissen und haben in der Regel nur dein Bestes im Sinn.
Mein Bestes?! denkst du jetzt vielleicht. Und wieso boykottiert mich mein innerer Zweifler, mein Kritiker oder mein innerer Lehrer dann immer wieder? Das soll in meinem Interesse sein?
Vor ein paar Tagen las ich auf einem Kalenderblatt noch den Spruch: „Deine Schattenseite ist nur die dunkle Schwester deines Lichts. Sie sehnt sich genauso nach deiner Liebe.“ Das gleiche gilt für dein inneres Team. Jeder Anteil in dir will Gehör finden, will seinen Platz in der Gruppe finden. Jeder Teil in dir will seine ureigene Position vertreten (dürfen) und will gebraucht werden und sich wertvoll fühlen. Dazu gehört auch, dass diese inneren Figuren auch unliebsame Gefühle ausdrücken dürfen. Lass zu, dass sie dir auch ihre Verletzung, ihren Ärger, ihre Enttäuschung, ihren Neid usw. zeigen. Wenn du das zulässt, werden sie dir früher oder später auch ihre zahlreichen positiven und liebenswerten Seiten zeigen.
Inneres sichtbar machen
Das Erstaunliche ist: wenn wir uns durch Stuhlarbeit mit diesen inneren Anteilen beschäftigen, erfahren wir einiges über sie. (Falls dir die Vorstellung eines Rollenspiels unangenehm ist oder albern vorkommt, kannst du einen Dialog übrigens auch in schriftlicher Form führen.) Wir erfahren z.B., dass unser Zweifler eigentlich nur Angst um uns hat (und sich aufgrund bisheriger Erfahrungen so und nicht anders verhält) oder dass unser innerer Perfektionist lediglich sicher stellen will, dass wir unsere Aufgabe gewissenhaft erfüllen und unseren Job nicht verlieren.
Leider schießen unsere inneren Teamkollegen – wie ja auch „wir“ selbst – oft über das Ziel hinaus. Sie reagieren wie ein reales Gegenüber: verletzt, beleidigt, zurückgewiesen, trotzig, eigensinnig, traurig oder wütend, weil wir von ihnen und ihrem Beitrag zum Ganzen nichts wissen wollen. Weil wir sie ins Dunkel verbannen und ihnen allzu oft den Mund verbieten oder schlichtweg leugnen, dass sie sich überhaupt im Raum (bzw. in uns) befinden.
Doch alle inneren Anteile haben uns Wichtiges zu sagen. Das Stichwort heißt hier „Integration“. Die Kunst besteht darin, diesen oftmals ungeliebten Seiten einmal zuzuhören und sich klarzumachen, dass sie mit uns im selben Boot sitzen. Sie sind Ich. Die Kunst ist, wie auch in einem realen Team, gute Kommunikation zu etablieren. Wertschätzung. Offenheit. Fairness. Transparenz. Und eine gute Portion Verletzlichkeit. So können aus lebenslangen Saboteuren erstaunlich konstruktive und hilfreiche Partner werden.
Wer gehört zu deinem inneren Team?
Welche Mitglieder kannst du in deinem inneren Team identifizieren? Wer sind deine Lieblinge? Von wem willst du überhaupt nichts wissen? Wenn du Schwierigkeiten hast, deine inneren Anteile zu identifizieren, nimm dir doch einfach mal ein paar Märchen oder deine Lieblingsfilme vor. Vielleicht schlummern in dir ein Hans-guck-in-die-Luft, ein Aschenbrödel, der Froschprinz oder eine böse Knusperhexe. Vielleicht gibt es aber auch einen John Wayne in dir, einen Darth Vader oder eine zuckersüße, platinblonde Prinzessin. Egal, wie du deine Teammitglieder nennst oder auf welche Weise du sie identifizierst – versuche, sie wie ein guter Gastgeber gleichermaßen willkommen zu heißen.
Sei neugierig. Versuche, sie kennen zu lernen. Was werden sie dir antworten, wenn du ihnen – vielleicht zum ersten Mal in deinem Leben – die ehrliche und unvoreingenommene Frage stellst: „Und was hast du mir Wichtiges zu sagen?“
Sei empathisch mit dir selbst
Und dann hör zu. Versuche, in die Haut dieser innerer „Persönlichkeiten“ zu schlüpfen. Versuche zu verstehen, was sie bewegt und was sie antreibt. Was dich bewegt und antreibt. Es könnte sein, dass du auf diese Weise einige neue und überraschende Dinge über dich erfährst.
Bildquelle: King Arthur and the round table, Public Domain, {{PD-1923}}
Jeder kennt das innere Selbstgespräch: Tausende von Gedanken kreisen in unserem Kopf. Wir sprechen innerlich mit uns selbst, immer wieder und leider oft ohne Pause.
Welcher Stimme sollte man folgen?