Sich zu zeigen ist nicht leicht. Für mich gewiss nicht. Auf einer Bühne zu stehen und den Text nicht zu kennen ist ein wiederkehrendes Thema meiner Alpträume. Doch warum fällt es manchen so schwer, sich zu zeigen, während andere scheinbar mühelos und ohne Angst auf jede Bühne klettern?
Natürliche Begabung, könnte man meinen. Sicher sind auch unser Temperament und unsere Veranlagung nicht bedeutungslos.
Worauf ich jedoch euer Augenmerk lenken möchte, ist eine simple, aber bedeutsame Tatsache. Unser Wille, uns zu zeigen, steht in direktem Verhältnis zu den Erfahrungen, die wir damit gemacht haben. Klingt einleuchtend, oder?
Wann, wo und wie zeigen wir uns?
Solange wir nicht über Harry Potters Unsichtbarkeitsumhang verfügen, sind wir für unsere Umwelt permanent sichtbar. Diese Erfahrung begleitet uns von Kindesbeinen an. Ja, mehr noch. Unsere ersten Kommunikationsversuche mit der Welt geschehen häufig über die Augen.
In der frühkindlichen Entwicklung und insbesondere in der Schamentwicklung spielt der Augenkontakt zwischen Eltern und Kind eine wichtige Rolle. Dies gilt umso mehr, solange das Kind noch nicht sprechen kann.
Aber was sehen wir in den Augen anderer? Wie sehen sie, was spiegeln sie uns? Dass wir uns häufig so ungern zeigen, hängt schlicht damit zusammen, dass wir sehr oft negativ angesehen wurden. Unsere Erziehungstradition ist daran nicht unbeteiligt.
Notwendigkeit von Beurteilung
Als Menschen sind wir nie frei von Beurteilung. In gewissem Sinne sind wir sogar darauf angewiesen zu unterscheiden. Unterscheiden wir nicht, können wir nicht wählen. Wählen wir nicht, trennen wir nicht zwischen dem, was uns gut tut und dem, was uns schadet.
Wir sollten uns lediglich darüber im Klaren sein, dass die Qualität von Blicken (insbesondere derer, die wir als Kind und Jugendliche erfahren haben) sich direkt auf unsere Authentizität und Bereitschaft auswirkt, uns zu zeigen. Möchtest du dich gerne zeigen, wenn du mit Kritik zu rechnen hast?

Authentisch sein – wie geht das?
Einem Kind erklären zu wollen, wie man authentisch ist, ist absurd. Ein Kind ist einfach und interessiert sich nicht für theoretische Konzepte. Das ist sein Geheimnis – und sein Schatz. Authentisch zu sein bedeutet zu sein. Freudvoll. Wütend. Traurig. Neidisch. Liebevoll. Verspielt. Neugierig. Einsam.
Echt. Unverstellt und ungeschützt.
Kürzlich fragte mich ein Bekannter: „Aber wie bin ich authentisch?“ Im Grunde fragte er danach, wie er sich wieder spüren kann, und wie er sich überhaupt verlieren konnte.
Wieso verlieren so viele von uns ihre Authentizität, ihre Wahrhaftigkeit, obwohl wir sie als Kind doch alle besaßen?
Scham und Beschämung – gefährliche Waffen
Die Antwort ist wieder einmal so simpel wie bedeutsam: als Kinder haben wir oft die (subjektive) Erfahrung gemacht, „nicht richtig“ zu sein. Wir wurden für unsere Fehler und unser Kleinsein beschämt.
Lange stand ich dem Konzept des „positiven Denkens“ sehr skeptisch gegenüber. Ich dachte, das sei nur ein billiger Trick, um sich das Leben „schön“ zu denken. Doch eines Tages begriff ich, dass es immer mindestens zwei Seiten einer Medaille gibt. Jeder kennt inzwischen den Klassiker „Glas halb voll oder halb leer“. Doch im Prinzip gibt es unendlich viele Perspektiven, die wir einnehmen können. Die Gestalttherapie sagt sogar: wir konstruieren uns unsere Welt.

Perspektive ist subjektiv
Das gleiche gilt für unseren Blick. Wie betrachten und beurteilen wir andere? Wo stehen wir, und wohin blicken wir? Welche Perspektive nehmen wir ein? Suchen wir nach Fehlern und Defiziten (ein typisch deutsches Problem)? Oder wenden wir uns den Ressourcen und Stärken zu?
Der Unterschied mag klein und haarspalterisch klingen. Aber die Wirkung ist riesig. Erinnere dich an Situationen, in denen du jemanden kritisiert, verletzt, beschämt oder herabgewürdigt hast. Was sahst du?
Wahrscheinlich fiel dein Gegenüber körperlich in sich zusammen, verschloss sich, wurde rot, zog sich zurück, rannte weg – oder ging aus lauter Verzweiflung zum Gegenangriff über.
Und nun erinnere dich an einen Moment, in dem du jemandem etwas Nettes sagtest. Etwas, das von Herzen kam. Hast du gesehen, wie die Augen des anderen begannen zu leuchten? Wie sich ein Strahlen auf seinem Gesicht ausbreitete? Wie sich sein Körper straffte und er auf einmal größer erschien?
All dies können wir mit der Macht unseres Blickes, unserer Gedanken und unserer Worte bewirken. Und andere haben das Gleiche unzählige Male in uns bewirkt. Wir sollten uns klar werden, wie mächtig unsere Perspektive ist. Und sie sorgsam wählen.
Viele machen sich auf den Weg
Für mich ist es kein Zufall, dass im Moment nicht nur ich, sondern auch viele andere vor den Vorhang treten. Für mich sind dies Zeichen der „Neuen Zeit“. Am intensivsten nehme ich dies bei Facebook wahr. Es mag an meinem Umfeld liegen, aber plötzlich tauchen überall Blogs und Websites auf. Die Menschen beginnen, sich zu zeigen. Sie wollen gesehen und gehört werden.
Aber ist es das Risiko wert?
Was wir zurückgewinnen, wenn wir uns zeigen
Ja, das ist es. Allerdings ist es nicht ganz so trivial. Wir tun gut daran, immer zwischen „geeignet“ und „ungeeignet“ zu unterscheiden. Scham ist ein – zugegebenermaßen unangenehmes – Gefühl, das uns dabei hilft. Lösen Menschen Scham, Unwohlsein und Rückzug in uns aus, ist es keine gute Idee, ihnen unser Innerstes zu offenbaren. Treffen wir jedoch Menschen, die uns annehmen, lieben, wertschätzen, ist das eine hervorragende Gelegenheit.
Ich selbst habe erst begonnen, mich wieder zu zeigen, als ich immer mehr positive, Mut machende Erfahrungen machte – und suchte! Dank meiner Ausbildung in Gestalttherapie traf ich immer häufiger Menschen, die mir offen, neugierig und wertschätzend begegneten. Etwas, das man lernen kann.
Überraschende Erfahrungen
Erst vor kurzem habe ich den Schritt gewagt, mich meiner „Berufung“, meinem Traum und meinem Herzenswunsch zu stellen. So tief saß meine Angst vor Kritik, Herabwürdigung und Beschämung. Und ich bin auch jetzt noch nicht davor gefeit. Mich zu zeigen, bleibt ein Risiko. Aber ein kalkulierbares. Eines, das ich heute besser einzuschätzen weiß und ich bereit bin einzugehen.
Meine früheren Erfahrungen haben mich gelehrt, mich besser unsichtbar zu machen, mich zu verstellen, eine Rolle zu spielen, die mir nicht entspricht. Doch ich wusste, dass es meine „Aufgabe“ und Begabung ist, in die Öffentlichkeit zu treten und meine Stimme zu erheben. Diese Vision durchzieht mein Leben wie ein roter Faden.
Dies erinnert mich einmal mehr an die Worte von Donald Maass, einem amerikanischen Literaturagenten. In seinem Buch „Writing for the 21st century“ schreibt er, wir müssten als Autoren – und ich füge hinzu als Menschen – an unsere Grenzen gehen und darüber hinaus, um das Publikum des 21. Jahrhunderts zu erreichen. Wir müssten uns selbst erforschen, uns authentisch, ungeschminkt und wahrhaftig zeigen.

Tu, was du liebst. Mach dich verletzlich.
Johnny Cash, der bekannte Countrymusiker, hat am Anfang seiner Karriere einen ähnlichen Rat erhalten. „Sing aus dem Herzen“. Tu das, was du wirklich bist. Und beginne, dich selbst positiv zu betrachten. Für Cash wurde dies zum Wendepunkt. An diesem Tag begann sein Welterfolg.
Ich selbst stelle etwas höchst Erstaunliches fest. Etwas, was Maass´ Forderung bestätigt. Je mehr ich mich zeige, je riskanter sich ein Text für mich anfühlt, desto mehr und desto positivere Reaktionen erhalte ich.
Das bewahrt mich nicht davor, Kritik zu ernten oder auf Menschen zu treffen, denen nicht gefällt (oder entspricht), was ich tue. Doch ich entscheide mich dafür, für die zu schreiben, die sich in meinen Texten wiederfinden. Denen ich – hoffentlich – Mut machen. Die ich bestärken und inspirieren kann. Die gerne lesen, was ich schreibe.
Und wenn ich hier und da einen Dorn zurücklasse, soll es mir auch recht sein. Jemand, der mich schon immer erstaunlich gut sehen konnte, sagte einmal, ich hätte „klirrende Grenzen“. So langsam verstehe ich, was er meint.
Danke für deinen Artikel.
Risikobereitschaft, gepaart mit Selbst-Reflexion, ist auch für mich der Schlüssel.
Liebe Grüße, Maja